BAG zur Arbeitszeiterfassung – Handlungspflicht für Unternehmen?

Der Beschluss des BAG zur Arbeitszeiterfassung vom 13.09.2022 (Az: 1 ABR 22/21) hat hohe Wellen geschlagen, ließ die arbeitsrechtliche Praxis aber mit offenen Fragen zurück. Insbesondere blieben die Anforderungen an die konkrete Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung und der Anwendungsbereich durch die veröffentlichte Pressemitteilung des BAG unklar. Hoffnungsvoll wurde darauf gewartet, dass die ausstehende Veröffentlichung der Entscheidungsgründe für Klarheit sorgen würde. Diese Hoffnung hat sich leider nur teilweise erfüllt. Seit Anfang Dezember liegt die Entscheidung nun auch im Volltext vor. Diese bringt zwar in gewissen Punkten Klarheit, jedoch bleiben einige Fragen weiterhin offen. Welche Auswirkungen die Entscheidung auf die Arbeitszeiterfassung in Unternehmen hat, lesen Sie in unserem aktuellen Beitrag.

 

Kerninhalt der Entscheidung

Zur Erinnerung: Ausgangspunkt der Entscheidung war die Frage, ob dem Betriebsrat ein Initiativrecht zur Einführung eines elektronischen Zeiterfassungssystem zusteht. Wie sich bereits aus der zuvor veröffentlichten Pressemitteilung ergab, verneinten die Erfurter Richter[1] ein solches Initiativrecht des Betriebsrates mit der Begründung, dass sich eine Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung auf Seiten der Arbeitgeber ohnehin aus einer gesetzlichen Regelung ergebe. Denn in § 3 Abs. 2 Nr.1 des Arbeitsschutzgesetzes (ArbSchG) regelt, dass Arbeitgeber zur Sicherung des Gesundheitsschutzes „für eine geeignete Organisation zu sorgen und die erforderlichen Mittel bereitzustellen“ haben. Darunter falle auch die Pflicht ein System einzuführen, dass die geleistete Arbeitszeit erfasst. Arbeitgeber seien daher (schon heute) verpflichtet, ein System einzurichten, mit dem Beginn und Ende und damit die Dauer der Arbeitszeit einschließlich der Überstunden der Arbeitnehmer erfasst werden.

Konkrete Vorgaben zur Ausgestaltung

Zwar stellt das BAG in seiner Entscheidung nicht ausdrücklich klar, wie der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung konkret nachgekommen werden muss. Allerdings werden – solange (und soweit) der Gesetzgeber den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum nicht ausgeübt hat – folgende Rahmenbedingungen festgelegt:

  • Bereitstellung eines Zeiterfassungssystems nicht ausreichend: Nach der Ansicht des BAG besteht nicht nur die Pflicht, den Arbeitnehmern ein System zur Verfügung zu stellen, mit dem die Arbeitszeit "gemessen" werden kann. Vielmehr bestehe auch eine Pflicht zur tatsächlichen Erfassung der Arbeitszeit, also deren Aufzeichnung. Zudem besteht die Pflicht, ein bereitgestelltes Zeiterfassungssystem auch tatsächlich zu verwenden. Es darf den Arbeitnehmern daher nicht nur zur „freigestellten Nutzung“ zur Verfügung stellen. Was dies konkret bedeutet, hat das BAG offengelassen.
  • Form der Zeiterfassung: Eine bestimmte Form wird vom BAG nicht vorgeschrieben. So muss die Zeiterfassung nach den Feststellungen des BAG nicht zwingend in elektronischer Form erfolgen. Insofern gestehen die Richter den Arbeitgebern einen Gestaltungsspielraum zu. Möglich ist daher auch eine rein analoge Zeiterfassung durch „pen and paper“ oder das Erstellen einer Exceltabelle oder eine Erfassung mittels bereitgestellter Software / Apps.
  • Persönlicher Anwendungsbereich: Die Handlungspflicht gilt grundsätzlich für alle im "Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer" (§ 5 Abs. 1 BetrVG). Das BAG hält allerdings Ausnahmen für möglich: Die Zeiterfassung müsse sich nicht auf Arbeitnehmer erstrecken, für die bisher gesetzliche Ausnahmen vorgesehen waren, weil bspw. die Dauer ihrer Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist. Unseres Erachtens ist die Entscheidung so zu verstehen, dass für leitende Angestellte keine Pflicht zur Zeiterfassung besteht.
  • Delegation der Pflicht: Das BAG hält die Möglichkeit der Delegation der Pflicht zur Zeiterfassung durch den Arbeitgeber an die Arbeitnehmer nicht nur für möglich, sondern erkennt eine solche Delegationsmöglichkeit sogar ausdrücklich an.
  • Beteiligung des Betriebsrats: Zwar steht dem Betriebsrat kein Initiativrecht hinsichtlich des "Ob" der Einführung eines Zeiterfassungssystems zu. Ein Beteiligungsrecht des Betriebsrats in Bezug auf das „Wie“ der Arbeitszeiterfassung ergibt sich nach den Feststellungen des BAG jedoch aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG. Sofern ein elektronisches Zeiterfassungssystem eingeführt werden soll, ist § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG einschlägig und der Betriebsrat zu beteiligen.

Weiterhin offene Fragen

Wenngleich das BAG sich zu einigen wesentlichen Fragen geäußert hat, sind folgende Fragen offen geblieben:

  • Drohen bei Verstößen gegen die Pflicht zur Zeiterfassung Sanktionen? Sofern die Arbeitszeit aktuell noch nicht erfasst wird, drohen derzeit nach unserer Auffassung unmittelbar keine Bußgelder. Solche Verstöße stellen nach aktueller Rechtslage keine Ordnungswidrigkeit dar. Allerdings handelt nach § 25 ArbSchG ordnungswidrig, wer gegen eine vollziehbare Anordnung der zuständigen Behörde zuwiderhandelt. Insoweit ist nicht auszuschließen, dass es bei Anlässen zu entsprechenden Anordnungen kommen könnte. Zudem dürfte (ggf. sogar zeitnah) eine gesetzliche Regelung zur Arbeitszeiterfassung zu erwarten sein. Diese könnte dann mit besonderen Bußgeldvorschriften verknüpft werden.
  • Was ist mit der Vertrauensarbeitszeit? Ein selbstbestimmtes Arbeiten mit freier Einteilung der Arbeitszeit durch die Arbeitnehmer bleibt unter Berücksichtigung der arbeitszeitrechtlichen Vorgaben unseres Erachtens grundsätzlich weiterhin möglich. Insbesondere, da eine Delegation der Zeiterfassung an die Arbeitnehmer möglich sein soll (siehe oben). Wichtig ist dann "nur", dass die tatsächliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer durch diese erfasst wird. "Echte" Vertrauensarbeitszeit, bei der überhaupt keine Erfassung mehr erfolgt, ist jedoch nicht mehr möglich.
  • Müssen auch die Pausen konkret erfasst werden? Das BAG hat keine Aussage darüber getroffen, ob auch die Ruhepausen konkret zu erfassen sind oder ob diese pauschal in Abzug gebracht werden können. Konsequenterweise wird man jedoch davon ausgehen müssen, dass diese ebenfalls konkret erfasst werden müssen. Denn nur so kann eine verlässliche Aussage über den tatsächlichen Umfang der Arbeitszeit getroffen werden. Dies bedeutet zugleich, dass ein pauschaler Abzug von Ruhepausen wohl nicht möglich sein dürfte.

Für Arbeitgeber ist besonders interessant, welche konkreten Anforderungen sich aus der Entscheidung des BAG für die bisherige Praxis der Arbeitszeiterfassung ergeben. Allerdings scheidet diese (weiterhin) die juristischen Geister. Wenngleich zu hoffen war, dass die kontroversen Diskussionen rund um die Bedeutung und die Folgen der Entscheidung durch die Veröffentlichung der Entscheidungsgründe ein Ende finden würden, scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein. Einige Stimmen sind sogar der Ansicht, die Entscheidung des BAG sei als unzulässige Rechtsfortbildung zu bewerten. Denn es sei ganz allein Angelegenheit des Gesetzgebers, geltendes Recht zu ändern oder zu erweitern. Daher sei nicht auszuschließen, dass diese Entscheidung künftig auch das Bundesverfassungsgericht beschäftigen könnte. Andere Stimmen sehen es als nicht hinreichend klar an, ob die Erfassung der Arbeitszeit elektronisch erfolgen muss oder nicht. Des Weiteren sei auch nicht klar, inwieweit bestimmte Arbeitnehmer von der Pflicht zur Zeiterfassung ausgenommen werden oder ob etwa kleinere und mittlere Unternehmen oder bestimmte Branchen von der Verpflichtung ausgeklammert werden können. Wiederum andere Stimmen meinen, dass die Entscheidung des BAG den "Tod der Vertrauensarbeitszeit" bedeutet. Aufgrund dieser anhaltenden Kontroverse rund um die unbeantwortet gebliebenen Fragen, ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht hinlänglich geklärt wie genau Arbeitgeber ihrer Handlungspflicht konkret nachkommen sollen. Eine abschließende Klärung kann allein durch ein (baldiges) Handeln des Gesetzgebers erfolgen, der die bestehende Rechtsunsicherheit durch die Ausgestaltung konkreter gesetzlicher Regelungen beseitigen muss.

Praxistipps: Was müssen (risikoaverse) Arbeitgeber jetzt schon tun?

Zwar ist die Entscheidung des BAG mangels spürbarer Sanktionen bei etwaigen Verstößen bislang noch ein "zahnloser Tiger". Allerdings werden risikoaverse Arbeitgeber bereits jetzt erste Schritte "in die richtige Richtung" gehen wollen; insbesondere da die Entscheidung des BAG ab sofort in allen Unternehmen und unabhängig von dem Bestehen eines Betriebsrats gilt. Wie Arbeitgeber tätig werden sollten, ist davon abhängig, ob im entsprechenden Unternehmen bereits ein Zeiterfassungssystem für die Arbeitnehmer – mit Ausnahme der leitenden Angestellten – eingerichtet ist.

  • Ist kein Zeiterfassungssystem eingerichtet, sollte bereits jetzt zumindest geprüft werden, wie die Entscheidung des BAG im Unternehmen umgesetzt werden könnte. Hier bestehen Gestaltungsspielräume: Ist eine elektronische Erfassung bspw. mittels einer App oder einer Software zweckmäßig? Bietet es sich an, dass die Arbeitnehmer ihre Arbeitszeiten auf entsprechenden Listen analog mit Stift und Papier eintragen? Soll aufgrund unterschiedlicher Tätigkeiten zwischen einzelnen Arbeitnehmergruppen differenziert werden?
  • Ist ein Zeiterfassungssystem bereits eingerichtet, beschränkt sich die Prüfung darauf, ob das Zeiterfassungssystem die vom BAG aufgestellten Vorgaben erfüllt oder ob unter Umständen eine Nachbesserung erfolgen muss. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf einen etwaigen pauschalen Abzug der Ruhepausen oder ob ggf. gegenwärtig noch bestimmte Arbeitnehmergruppen (bspw. Führungskräfte ab einer bestimmten Vergütungshöhe, die keine leitenden Angestellten sind) vom Zeiterfassungssystem ausgeschlossen sind.

Fazit

Trotz der weiterhin anhaltenden Diskussionen über die Entscheidung zur Arbeitszeiterfassung dürfte jedenfalls insoweit Einigkeit bestehen, dass allein der Gesetzgeber diesen Diskussionen durch eine gesetzliche Regelung der konkreten Art und Weise der Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung ein Ende setzen kann. Erst dann wird (rechts-)sicher feststehen, wie genau die Arbeitszeiterfassung zu erfolgen hat. Wir werden Sie über etwaige Gesetzesvorhaben auf dem Laufenden halten.

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern ein besinnliches und erholsames Weihnachtsfest und ein gesundes neues Jahr!

 

[1] Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Die grammatikalische männliche Form wird lediglich aufgrund der Lesbarkeit verwendet.

 

 

Dr. Anja Naumann, LL.M.

Rechtsanwältin

Sven Groschischka

Rechtsanwalt

 

 

 

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