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Der Koalitionsvertrag aus arbeitsrechtlicher Perspektive – Teil 1
Der Koalitionsvertrag vom 9. April 2025 bringt zahlreiche Impulse für das Arbeitsrecht – von Wochenarbeitszeit bis Tariftreue, von Zeiterfassung bis steuerfreie Überstunden. Während einige Vorhaben bestehende Unsicherheiten beseitigen sollen (etwa bei der Arbeitszeiterfassung), werden an anderer Stelle (wie etwa bei der Tariftreue) neue Akzente gesetzt. Was auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer zukommt, fassen wir für Sie im folgenden ersten Teil dieses Beitrags zusammen.
Flexibilisierung der Arbeitszeit
Nach jahrelangen Debatten um die Flexibilisierung der Höchstarbeitszeit wollen CDU/CSU und SPD nun Abschied nehmen von den zeitlichen Begrenzungen der täglichen Arbeitszeit. Stattdessen soll künftig auf der Grundlage der Arbeitszeitrichtlinie der EU (2003/88/EG) nur noch die durchschnittliche wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden maßgeblich sein. Dies ist nicht nur längst europäischer Standard, sondern auch in Deutschland – durch die Übergangsregelungen während der Corona-Pandemie – zumindest teilweise erprobt. Die EU-Arbeitszeitrichtlinie erlaubt es den Mitgliedstaaten, den Referenzzeitraum zur Berechnung des durchschnittlichen Arbeitszeitvolumens flexibel zu gestalten – in der Regel über vier, sechs oder zwölf Monate, abhängig von nationalen Vorschriften oder tariflichen Regelungen.
Die Regelung in § 7 Arbeitszeitgesetz (ArbZG) sieht bereits jetzt vor, dass durch Tarifverträge von der täglichen Höchstarbeitszeit abgewichen werden kann, sofern im Durchschnitt bestimmte Höchstgrenzen eingehalten werden. Zur Bestimmung dieses Durchschnitts sind Zeiträume von sechs bzw. zwölf Monaten zulässig. Es ist daher naheliegend, dass sich auch die geplante Einführung einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit an diesen bereits etablierten Zeiträumen orientieren wird. Die konkrete Ausgestaltung der Neuregelung soll im Dialog mit den Sozialpartnern erfolgen. Das kann bedeuten, dass das ArbZG nach Rücksprache mit Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern geändert und eine Wochenarbeitszeit eingeführt wird. Denkbar ist aber auch, dass im ArbZG lediglich eine Öffnungsklausel ergänzt wird, wonach durch Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen anstelle einer täglichen eine wöchentliche Arbeitshöchstzeit eingeführt werden kann. Für Betriebe ohne Tarifbindung und Betriebsrat bliebe es dann beim Satus Quo.
Zweiter Versuch eines Bundestariftreuegesetzes
Bereits die Ampel-Regierung hatte in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, mit der die Einhaltung von Tarifverträgen zur Bedingung bei der öffentlichen Auftragsvergabe gemacht werden sollte. Solche „Tariftreuegesetze“ existieren auf Länderebene bereits in allen Bundesländern außer Bayern und Sachsen. Aufgrund des vorzeitigen Bruchs der Ampel-Regierung kam es jedoch nicht zur Umsetzung dieses Gesetzesvorhabens. Dies soll sich in der aktuellen Legislaturperiode ändern. Ziel des Bundestariftreuegesetzes soll es sein, die Tariftreue und Tarifautonomie zu stärken und „faire Löhne“ in Deutschland zu gewährleisten. Außerdem soll hiermit Art. 9 der Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union (RL 2022/2041) umgesetzt werden. Die Frist zur Umsetzung dieser Richtlinie ist bereits am 15. November 2024 abgelaufen.
Konkret sollen öffentliche Aufträge des Bundes ab einem Auftragswert von EUR 50.000 – bei Start-Ups mit „innovativen Leistungen“ in den ersten vier Jahren nach Gründung ab EUR 100.000 – an die Einhaltung tarifvertraglicher Arbeitsbedingungen geknüpft werden. Unternehmen müssten künftig nachweislich Löhne mindestens auf Branchentarifniveau zahlen.
Digitale Zeiterfassung kommt – Vertrauensarbeitszeit bleibt
Die Pflicht zur Einführung eines „objektiven, verlässlichen und zugänglichen“ Systems zur Erfassung der täglich geleisteten Arbeitszeit, also jeder Arbeitsstunde, hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) bereits 2019 festgestellt (Urteil vom 14.05.2019, Az. C-55/18). Seither warten Unternehmen auf eine gesetzliche Umsetzung, schließlich sieht das ArbZG in § 16 Abs. 2 bislang nur eine Dokumentationspflicht für Mehrarbeit vor.
Geplant ist, die elektronische Erfassung von Arbeitszeiten „unbürokratisch″ zu regeln und dabei für kleine und mittlere Unternehmen angemessene Übergangsregeln zu schaffen. Ein deutliches Zeichen für mehr Flexibilisierung ist die Möglichkeit, Vertrauensarbeitszeit ohne Erfassung beizubehalten. Ob dies für Unternehmen der neue Ausweg aus der generellen Erfassungspflicht wird, kann nur die genaue gesetzliche Ausgestaltung zeigen, die „im Einklang mit der EU-Arbeitszeitrichtlinie“ erfolgen soll.
Mindestlohn – EUR 15,00 bis 2026?
Der gesetzliche Mindestlohn soll sich künftig sowohl an der Tarifentwicklung als auch an 60 Prozent des Bruttomedianlohns von Vollzeitbeschäftigten orientieren. So soll nach dem Willen der Koalitionsparteien bis zum Kalenderjahr 2026 ein Mindestlohn in Höhe von EUR 15,00 erreichbar sein. Die SPD wollte zunächst im Koalitionsvertrag klarstellen, dass ein Betrag in Höhe von EUR 15,00 „verbindlich“ sein sollte. Hiermit konnte sie sich aber nicht durchsetzen.
Dennoch ist der potentielle Anstieg des Mindestlohns auf EUR 15,00 nach Berechnungen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) und des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung durch die Orientierung an 60 Prozent des Bruttomedianlohns wahrscheinlich. Dass nunmehr auch der Bruttomedianlohn mit einbezogen wird, ergibt sich allerdings bereits aus der geänderten Satzung der Mindestlohnkommission – nicht erst aus dem Koalitionsvertrag.
Prof. Dr. Marion Bernhardt
Rechtsanwältin | Partnerin
Sven Groschischka
Rechtsanwalt | Counsel
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